Der ältere Patient

Gepostet am Jun 28, 2017


Der ältere Patient, Teil 1

Wege zum Verständnis des Alterungsprozesses – die Sichtweise der TCM – die Begleitung mit Westlichen Kräutern

Altern ist in unserer westlichen Zivilisationsgesellschaft weiterhin ein Tabuthema. Der Leistungsdruck der Jetztzeit nimmt ältere Menschen aus den Arbeitsmärkten heraus und verfrachtet sie entweder in Geriatrische Zentren, in die Heimpflege oder zumindest in einen Graubereich – genannt Pension – in welcher der ältere Patient üblicherweise sich selbst überlassen wird….
Aus der Sicht der Chinesischen Medizin und nun schon fast 30 jähriger TCM Praxis bedeutet Alter vorrangig: 1) Versiegen des Ni-Qi, 2) Abnahme des Mi- und Ni-Yang und – last not least 3) Blutstase, wobei die aktuelle Lehrmeinung in der Behandlung älterer Patienten immer mehr primär in Richtung Auflösung der Blutstase und Regulierung des Blutflusses tendiert. Diesbezüglich haben die Bücher von Yan De-Xin und Gunter Neeb neue Dimensionen des TCM Verstehens aufgestoßen.

Blutstase
Das beste Mittel gegen Stagnation ist Bewegung. Das gilt sowohl im Innen wie im Außen. Bewegung im Außen bedeutet regelmäßiges Spazierengehen, Tai Ji, Qi Gong, oder andere Bewegungsformen, die nicht so viel Qi verbrauchen, dafür aber viel Qi erzeugen und dieses auch bewegen. Das Blut ist das Vehikel fürs Qi. Bewegt sich das Qi, bewegt es auch das Blut. Therapeutische Bewegung im Innen bedeutet, Stagnation mittels Akupunktur und/oder Kräutertherapie aufzulösen und den Fluss der Substanzen wieder herzustellen.

Im Ling Shu steht:“ wenn Blut und Qi stark sind, ist langes Leben möglich. Sind sie schwach, kommt früher Tod“. Also ist die Balance von Qi und Blut, sowie deren Verhältnis untereinander entscheidend, um vorzeitiger Senilität therapeutisch entgegenzutreten.

Wie kommt es im Alter zu Blutstasen? In einem Menschenleben hinterlassen Unfälle, Traumen, fehlgeleitete Emotionen, Burnout und andere Erkrankungen – sprich Qi/Blut-Dysbalanzen – Spuren von Blockaden im Körper, welche im Alter aufgrund von Kumulation spürbar werden und den älteren Körper zunehmend schwächen. Es findet sich u.a. oft ein rauer Puls (se mai) und eine violette Zunge mit oder ohne beteiligten bzw. gestauten Zungengrundvenen. Die Schmerzen – egal, wo sie auftreten – haben eine Qualität von ziehend ( Qi Stagnation) bis stechend (Blutstase).

Abgesehen von zusätzlichen Symptomen suchen wir hier nach Kräuterrezepturen, die das Blut bewegen, Stasen lösen und einen harmonischen Qi- und Blutfluss ermöglichen. In meiner Praxis kommen immer wieder folgende Kräuter zum Einsatz: Arnica montana, Angelika sinensis, Salvia miltiorrhiza, Hypericum perforatum, Ruta graveolens, Leonurus cardiaca, Crataegus, Hippokastanum, Curcuma longa, Achillea millefolium…uam.

Also – um gleich mal ins Thema praktisch einzusteigen – ein erster Patientenfall:
Ein 80 jähriger Patient, sehr guter Allgemein-, Bewusstseins- und Ernährungszustand kommt wegen chronischer LWS-Schmerzen. Die Anamnese ergibt eine starke Abnützung, Verschmälerung und teilweise auch Protrusion der Bandscheiben zwischen L1 und S1. Außerdem besteht eine ausgeprägte Prostatahyperplasie, die das Urinieren erschwert und zusätzlich berichtet der alte Mann von gelegentlichen Reflux Attacken (besonders nach zu ausgiebigem Genuss des hervorragenden südsteirischen Weißweines, auf den er in seinen späten Jahren überhaupt nicht mehr verzichten möchte). Also haben wir hier Dysbalancen auf mehreren Ebenen. Wo setzt man an?

Sein Puls hatte auf beiden Seiten – und da besonders auf Guan und Chr – unter anderem auch einen ausgeprägten rauen Charakter und die Zungengrundvenen „spielten“ ein massives, dunkelblaues Netzwerk mit bereits vielen Stasenkötchen, die in diesem Betrachtungsmoment den Eindruck eines Kunstwerkes erweckten. Jetzt läuteten natürlich die Alarmglocken, denn so ein Bild hatte ich bisher nur einmal gesehen und zwar kurz nach dem Angina Pectoris – Anfall eines lieben Freundes, nur dass bei diesem se mai auf den Taststellen cun und guan anzutreffen war.

Die erste Rezeptur (Kräutertinktur) für den alten Herren sah so aus:
Heilpflanze Energetik/Thermik/Affinität Anteil
Artemisia absinthii Warm, bitter, entspannt Leber 1
Angelica sinensis Bewgt Qi im Blut, warm, scharf 1
Paeonia Bewegt Blut „der Mitte“, kühl 1
Juniperus Entschleimt – besonders im Unteren Erwärmer, warm, scharf 1
Althea Neutral, „Schleimfänger“, „Magenschutz“ 1.5
Achillea millefolium Warm, potenter Qi und Blut Beweger, scharf 1
Zanthoxylum Warm, bewegt das Blut der Pripherie, scharf 1
Glycyrrhiza Kühl, harmonisiert die Rezeptur 0.5

Erklärung:
Alte Menschen haben gelernt, ihre „Wehwehchen“ zu akzeptieren und so gut wie möglich mit ihnen auszukommen. Dabei werden aber leider wichtige Details bei der Anamnese übersehen. Das macht es für den Therapeuten nicht immer leicht, die richtige Diagnose zu stellen und eine entsprechende Rezeptur zu finden.

Hier: das Gebot der Stunde lautete, Blut und Qi wieder in Bewegung zu bringen und somit die Gefahr eines folgenschweren Blutstopps als auch natürlich Schmerzreduktion zu bewirken. Des Weiteren sollte die Leber entspannt werden, denn diese ist es schließlich, die das freie Qi durch den Körper zu bewegen hat, sodass das eine oder andere Gläschen Wein wieder gut vertragen wird….! Die Prostatahyperplasie und die damit verbundenen Probleme beim Urinieren waren zu diesem Zeitpunkt eher zweitrangig.
Artemisia und Paeonia entspannen und durchbluten die Leber und Gallenblase. Angelica sinensis, Achillea und Zanthoxylum bewegen Qi und Blut und reduzieren die Stasenbildung. Althea und Juniperus lösen Schleimverklumpungen, was auch im Hinblick auf die Prostatahyperplasie vorteilhaft ist. Althea und Glycyrrhiza haben hier außerdem die Funktion, die scharfen Eigenschaften der Beweger in Zaum zu halten und die Rezeptur „verträglich zu machen“.

Die Einnahme der ersten Kräutertinktur erstreckte sich über ca. 3 Wochen, bei einer täglichen Ratio von 3x5ml Tinktur auf jeweils 1/4l Wasser. Bei der 2. Konsultation nach 1 Monat hatte sich das Venengeflecht der Zungengrundgefäße schon stark zurückgebildet und die Rückenschmerzen waren zumindest schon viel erträglicher. Diesbezüglich sei aber der Vollständigkeit halber erwähnt, dass wir 2x zusätzlich akupunktierten, und zwar Du Mai, B40, G34, Ni3.

Der Verlauf ist seither unkompliziert. Der alte Mann kommt alle 6-8 Wochen auf Akupunktur und Kräuterkorrektur. Es geht ihm deutlich besser. Magenschutz, Blutverdünnung als schulmedizinisch/pharmazeutische „Abschirmung“ wurden bereits nach der ersten Kräutermixtur weggelassen.

Das „Potenzerl“ – eine Art Betthupferl

Zum Abschluss von Teil 1 dieses Themas noch eine süße Situation aus meiner Praxis, die zeigt, wie wichtig gelebte Sexualität noch bis ins hohe Alter ist und wie wichtig es dafür ist, Blut und Qi in Leber und Unterbauch zu bewegen: Er, 75, Sie 72 kommen schon seit vielen Jahren in meine Praxis. Abgesehen von den zahlreichen „Wehwehchen“ wie Stuhlabnormitäten, Blutdruckschwankungen etc. kam diesmal die Frage: „Herr Doktor, ham´s  net irgendwas fürs Potenzerl“? So eine Art Familientrunk für lustvolle Momente J. Ja! Ich denke, das geht! Bewege Blut, besonders im Unteren Erwärmer, wärme das Ni Qi, stütze das Yuan Qi und achte auf eine „freie“ Leber!

Die verwendete Heilkräuterrezeptur in meinem „Lusttrunk“ dazu sah für die beiden so aus:

Heilkraut Geschmack Temperatur Affinität Proportion
Anemone Bitter kalt He, Ni 1
Scutellaria lat. Neutral kühl He, Ni, Le 1.5
Turnera/Damiana aromat. warm Mi, Ni, Le 1
Rosmarin aromat. warm He, Mi, Ni, Le 1
Oregano aromat. heiss He, Mi, Ni, Le 0.5
Cx. Cinnamomi Scharf heiss Ni 0.5
Panax Ginseng Scharf, süss heiss Alle Zang, Yuan Qi 0.5
Glycyrrhiza Gl. Süss kühl Alle Funktionskreise 0.5

 

 

Heilkraut Chin. Wirkung Westl. Wirkung
Anemone Beruhigt Shen, Kühlt den Kopf
Scutellaria lat. Beruhigt Shen, Führt die Energie des Kopfes nach unten
Turnera/Damiana Aphrodisiakum, Yang Tonic Macht lebendig
Rosmarin Ni/Mi/He Yang Tonik, Aktiviert den Shen, bewegt Qi und Blut macht kommunikativ
Oregano Ni/Mi/Yang Tonik, wärmt die Ni, bewegt Qi und Blut Erwärmt den Unterbauch
Cx. Cinnamomi Ni Yang Tonik, wärmt Ming Men Erwärmt Unterbauch
Panax Ginseng Starkes Qi Tonik für alle Zang, unterstützt Yuan Qi Bringt Kraft und Ausdauer
Glycyrrhiza gl. Mildes, eher yin-betontes Qi Tonik Stabilisiert alle Organe, harmonisiert die Rezeptur und bewirkt in kleiner Dosierung eine verlängerte Wirkung

 

Die beiden kühlen Kaiserkräuter Anemone und Scutellaria dienten dazu, die warmen, scharfen Eigenschaften der anderen Kräuter zu neutralisieren und den Geist halbwegs in Ruhe zu halten. Das ist wichtig, denn eine überdrehte Mentalität kann eine schöne sexuelle Begegnung zerstören. Rosmarin und Oregano waren hier die starken Qi und Blutbeweger. Damiana, Zimt und Ginseng in kleiner Dosierung runden diesen Zaubertrank ab und „füttern“ Ming Men. Dass Süssholz tatsächlich auch eine „Retardwirkung“ hat, entnahm ich diesmal aus dem feedback der beiden, nämlich dass es am nächsten Tag zu Mittag ohne vorhergehende Einnahme der Rezeptur immer noch „gut geklappt hat“.

Die Auflage für jeden der beiden war, bei Bedarf 15 ml der Tinktur in 3 Portionen in 2 Stundenabständen vor dem Abend zu trinken. Nach 2 Monaten kamen die beiden wieder auf eine Kräutersession in meine Praxis und natürlich musste ich nachfragen, was denn ihre Erfahrung mit dem „Lustsafterl“ war. „Wunderbar, Herr Doktor, so macht das Leben im Alter wirklich wieder Spass“!

Also man sieht, wie breitfächrig das Thema „Regulierung und Harmonisierung des Qi und Blutflusses im Alter“ in einer TCM Allgemeinpraxis sein kann. Weitere Erfahrungen gibt es hoffentlich bald hier auf meiner Website.